Das Mädchen zerbricht Glas in diesen Tagen, ein Vase, ein Glas – fast jeden Tag geht etwas zu Bruch. So wie innerhalb weniger Tage so viele gewohnte Formen und Gefäße zerbrochen sind, in denen unser Leben gefügt war. Etwas birst. Etwas Neues entsteht. Genau jetzt. Dies ist vermutlich die größte Zäsur, die ich in meiner Biographie erlebe.
Imagine, singen wir am Sonntag in unserer Hausgemeinschaft von unseren Balkonen. Fast eine Stunde singen wir miteinander, davon, wie die Welt sein könnte. Davon, dass die Gedanken frei sind und dass wir das in dem Moment tun, in dem ein Gefüge bricht, das erstaunt mich zutiefst. Imagine, wenn wir jetzt erkennen, wie kostbar all diese Arbeit ist, in der Pflege, in der Lebensmittelbranche. Imagine, wenn sich Menschen rund um die Welt die Hände reichen. Imagine, wenn die Erde aufatmen könnte. Imagine.
Eben erst hatte ich über Zeit geschrieben, und jetzt –. Die Geschwindigkeiten dieser Tage laufen so dermaßen gegeneinander: da ist diese irre Beschleunigung von Fallzahlen, von Verordnungen, Änderungen, Schließungen, die unser komplettes gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben innerhalb weniger Tage zu Fall bringt. Da ist dieser Sturm, der mancherorts längst schon wütet, dessen Brausen wir immer deutlicher vernehmen, der sich bedrohlich am Horizont aufbaut und von dem keiner weiß, welchen Schaden er anrichten wird, wieviele Verluste wir werden beklagen müssen.
Und gleichzeitig Stillstand. Leere Straßen und Spielplätze, leere Trams, geschlossene Läden. Wir haben die wahnsinnige Geschwindigkeit unseres Alltags mit dem Virus getauscht. Da sitzen wir nun, in unseren Wohnungen und Häusern, nur unsere Gedanken und verängstigten Herzen irren weiter während wir, zumindest einige von uns, gezwungen sind zu verlangsamen, Pläne, Vorstellungen, Sicherheiten loszulassen. Wir sind in unseren Häusern festgesetzt, rund um den Erdball. Wir haben Angst, während die Delfine sich in das plötzlich klare Wasser von Venedigs Lagunen vorwagen.
Gut geht’s uns, wenn alle sich um alle kümmern, hat Juli Zeh mal in einem Interview gesagt und jetzt ist das nicht mehr nur ein Satz, sondern eine konkrete Erfahrung, die plötzlich alles beeinflusst, was wir tun.
Immer wieder in diesen Tagen laufen mir die Tränen, vor Erschütterung, aber auch weil mich dieses Geschehen, das die ganze Welt erfasst, im innersten berührt. Immer wieder dieselben Zyklen von Angst, Sorge, Verzweiflung und Trauer und dann wieder ein Annehmen dessen, was ist, mich auch im Neuen wieder in aller Verletzlichkeit ganz und gar in dieses Leben und in die Lebendigkeit hineinstellen, die ich in allem fühlen kann, was fühlt.
Leben und Tod scheinen ein seltsames Geschwisterpaar in diesen Tagen, der eine nicht ohne den anderen anzutreffen, vollkommen verschieden und doch Hand in Hand. Ich sehe sie an, die beiden, und dort, wo ich beide im Blick habe, gleichzeitig, endet der Schmerz, der Sturm und es wird still.
Nachts wenn ich wach liege und nicht schlafen kann mache ich Loving Kindness Meditation. Ich mache sie abends bevor ich schlafe und morgens, wenn ich aufwache. Ich mache sie beim Kochen und in all den kleinen Momenten, in denen ich es unterbringen kann. Ich mache sie für meine Familie. Ich mache sie für meine Freundin, die Ärztin ist, die nicht weiß, was sie zu erwarten hat die nächsten Wochen in ihrer kleinen Hausarztpraxis. Ich mache sie für alle die Älteren, die mir lieb sind, und die ich in diesen Tagen frage, ob sie Angst haben, wie sie eigentlich dem Tod entgegensehen, der irgendwann kommt, vielleicht schneller als gedacht. Ich mache es für die Menschen in Lesbos, deren Situation so tief beschämend und entsetzlich ist. Für die, die Entscheidungen treffen, die so viele betreffen, die Leben oder Tod bedeuten können, Chaos oder Ordnung, und die diese Entscheidungen treffen müssen, ohne dass sie wissen. Denn niemand weiß in diesen Tagen. Wir gehen alle miteinander auf neuem Land, auf unbekanntem Boden. Ich mache sie für die, die zittern und für die die schlagen, für die die lieben und für die die weinen, für alle gleichermaßen wiederhole ich die immer gleichen Sätze und das – ja das ist meine wichtigste Arbeit in diesen Tagen. Das ist es, was für mich in diesen Tagen heißt, eine Liebende zu sein.
Theresa sagt:
Deine Worte berühren mich, Du ferne, nahe Nachbarin! Vielen Dank. May you be love, may I be love, may be love around…
ankafalk sagt:
Ja…genau…
Andrea sagt:
Danke dir für deine Worte, die mir aus dem Herzen sprechen.
Jana sagt:
Vielen lieben Dank für deine berührenden Worte!