Die Zeit rollt sich zusammen

Die Zeit. Sie rollt sich zusammen wie ein Geschenkbank, das gerade niemand braucht, sorgfältig ist es im Schrank verstaut, bis irgendeiner sich wieder erinnert, bis irgendeiner es wieder brauchen kann. 

Die Zeit hat ihren Taktstock verloren, irgendwo im Wald ließ sie ihn liegen, als sie sich nach dem Moos bückte, und wie zufällig die Flechten berührte, die dort auf Zweigen, Ästen, Steinen wachsen. 

Die Zeit hat sich verdoppelt und -dreifacht in diesen Tagen und ich leben in all diesen doppelten und dreifachen Zeiten gleichzeitig. 

Da ist diese irre Geschwindigkeit dieser Zeit, hier, in dieser Kultur, die mir in den Ohren saust. Schneller, höher, weiter, mehr. Heute, morgen, übermorgen. Die Gedanken rasen über Autobahnen, alle treiben sich gegenseitig an. Schnell, schnell in den Kindergarten, schnell, schnell nach Hause denn WIR HABEN KEINE ZEIT. Niemals nicht haben wir die Zeit, die flutscht uns aus den Händen, entgleitet uns in unserem irren Treiben. Wir jagen sie, ohne sie je zu erwischen, sie ist immer schon hinter uns, vor uns, neben uns, aber niemals IN uns. Ein kollektiver Sog. Ein Wahn, dem wir uns unterwerfen, einem Geflecht aus scheinbaren Notwendigkeiten, die die Tage verdichten bis zur Unkenntlichkeit. 

Und dann ist da dieses unglaubliche JETZT des Lebens als Familie. Die Lebensenergie des Mädchens, die sprudelt und springt, saust, hüpft, gluckst und quietscht. Das Glück, Familie zu sein, miteinander zu sein, alles stehen und liegen zu lassen, um dieses JETZT zu genießen. Um einander zu genießen. Diese Zeit ist mir die liebste in diesen Tagen. Und wir nehmen sie uns. Wir können sie uns nehmen. Wir tun es, weil es so wichtig ist, weil es die Momente sind, in denen Leben sich erfüllt, einfach so. Ganze Tage lassen wir so verstreichen, weil wir wissen, dass nichts ewig ist. Weil das Leben so fragil ist, so zerbrechlich und kostbar und flüchtig wie die Blüten des Mandelbaums vor unserem Fenster, die entstehen, verblühen, vergehen in ewige Dreiklang.  

Dahinter, wie ein unsichtbarer Strom, die Zeitlosigkeit Indiens. Mäandernd und zirkulär, sich unverhofft in die Ewigkeit dehnend, immer da, immer schon gewesen, die Kultur durchdringend. Sie spiegelt sich im Eigensinn der Inder, Zeit zu sehen und strecken, zu rollen und in Schlaufen zu legen, wie es ihnen passt. Stets aber schließt sich diese Zeit in großen Kreisen und alles kehrt an den Ursprung zurück. In zeitloser Geste werden Götter gewaschen, mit Nahrung versorgt. In zeitloser Geste werden Häuser gewischt und Straßen gefegt, jeden Tag.

Sie spiegelt sich in den Augen der Frauen, diese Zeitlosigkeit, in den Augen jedenfalls, die glänzen, wenn sie ein Kind sehen, die es mit klingenden Reifen am Arm berühren, weil jedes Kind das Wunder der Zeit widerspiegelt, das Wunder des Menschseins, das Wunder Leben. Und das zu berühren bleibt immer genug Zeit.

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