Annabelle, sagt sie, ich heiße Annabelle. Deutsch spricht sie mit mir, tamilisch mit der Frau im Sari, die das Heu für ihre Pferde bringt. Französisch mit dem kleinen Jungen, der gleich auf einem ihrer Pferde reiten wird.
Annabelle, ich schätze sie auf Mitte Zwanzig, ist in Auroville geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern kamen hierher, als die Erde noch karg und rot war. Mit nichts als einer großen Vision, wie so viele damals. Ich habe Bilder gesehen: kahles Land. Jetzt ist da ein Gästehaus inmitten eines Dschungels aus Bambus, Neembäumen, Bougavillea, die sich bis hoch in die Wipfel winden.
Als ich ein kleines Mädchen war, sagt Annabelle, da bin ich auf diesen Baum hier geklettert, etliche Meter hoch, und dann bin ich da oben eingeschlafen und meine Eltern haben sich schreckliche Sorgen gemacht. Es war dunkel und ich kam nicht nach Hause.
Ein anderes Mal saß ich oben im Baum und sagte Gedichte auf und sang und kam über Stunden nicht herunter. Die Kleine da, die erinnert mich so an mich selbst mit ihren drei goldenen Löckchen.
Mit der Kleinen meint sie meine Tochter, die unbedarft, voller Freude und ohne Angst mit den Hunden und Pferden hier umgeht, ihre kleinen Händchen ausstreckt und sich beschnuppern lässt und die warmen Leiber und Schnauzen berührt und vor Vergnügen jauchzt. Ich hingegen hatte schon als kleines Kind Angst vor Hunden und habe sie bis heute. Ich gehe ihnen meist aus dem Weg.
Was meinst du wie das war, sagt Annabelle, wenn ein Pferd mich getreten hatte und ich am nächsten Tag wieder hin muss. Daran hat mich der kleine Junge erinnert.
Der kleine Junge ist mit seiner Mutter vom Reitplatz verschwunden, das kleine Pony, auf dem er eben die erste Reitstunde seines Lebens hatte, ist noch da und frisst Heu. Lange ist er mit Annabelle neben dem Pony gestanden und hat geschaut, gestriegelt, gestreichelt. Wir schauten zu, wir spazierten zu den anderen Pferden, kamen wieder zurück. Wir mäanderten um das Pony und den Heuhaufen herum, während Annabelle dem kleinen Jungen aufs Pferd half. Lange, lange blieben sie da stehen und ich hörte nur in Bruchstücken was Annabelle mit dem kleinen Jungen sprach.
Ich wunderte mich, warum sie nicht direkt losmarschierten, aber diese erste Erfahrung auf dem Rücken eines Pferdes fand fast vollständig am selben Platze statt.
Und jetzt schliess die Augen, sagte Annabelle auf französisch. Und jetzt atme in deinen Bauch.
Und während ich mit halbem Ohr hörte und mit halber Aufmerksamkeit meine Tochter beim Pferde streicheln begleitete, während ich verhinderte, dass sie dem testosteronwilden Hengst auf der angrenzenden Koppel zu nahe kam, der ihr so gefiel, schossen mir die Tränen in die Augen.
Ich erinnerte mich an meine Reitstunden als kleines Mädchen, an die Strenge, die Härte, die unter Reitlehrerinnen (Lehrer hatte ich nie) üblich war. Angst haben galt nicht. Und wenn da welche war, musste man da durch. Wie die meisten jungen Mädchen war ich vernarrt in Pferde. Aber ich hatte auch Angst vor ihnen.
Und Annabelle? Sie bleibt einfach stehen, mit der Hand am Halfter, so lange, bis der kleine Körper des Jungen sich entspannen kann, bis das Nervensystem die Angst wieder loslässt.
Oh Annabelle, wo hast du das nur gelernt? Oh Annabelle, wie wunderbar, dass Du auf Bäumen einschlafen, auf Bäumen singen durftest. Oh Annabelle, so zu arbeiten, mit Kindern, mit Pferden, so empathisch zu sein und dabei so klar und spürbar und fühlend – das macht einen Unterschied. Einen Unterschied, der mindestens so groß ist wie der Baum hoch, auf dem Du als wildes mutiges Mädchen dein Kinderleben leben durftest, während deine Eltern für ihre Angst selbst da waren.
Dieser kleine Junge darf fühlen.
Für mehr Informationen über Auroville: Hier geht’s zu Auroville International Deutschland. Und das hier ist die offizielle Webseite von Auroville.