Blissful love, schreibt die Nachbarin

Baumtempel Indien

Von einem Besuch in Indien zehrt man ein Leben lang, sagt G. zu mir. Ein Leben lang also diese Durchlässigkeit, das Fließen, das Wissen, dass Kontrolle Illusion ist, einfädeln in die feste deutsche Stofflichkeit. 

Die indischen Sommerkleider des Mädchens, aus handgefärbtem, handgedruckten Stoff, gekauft in Auroville, diesem geheimnisvollen Ort auf roter Erde, sie sind nun fast alle zu klein. Eine Hose, ein Kleid passt noch gerade so, vielleicht noch für den halben Sommer. 

Sieben Wochen saß Buddha in Indien unter seinem Baum, nach seinem großen Erwachen. Tat nichts. Außer das zu integrieren, was er soeben erlebt hatte. Ein Erlebnis, das wie lange dauerte? Ein paar Sekunden? Minuten? 

Ich saß wenig unter Bäumen, in meinen Jahren in Indien, und wenn, dann mit Baby. Aber ich war lange dort. Über vier Jahre. 

Migration ist ein lebenslanges Projekt, es ist ein Menschheitsprojekt, sage ich zu Frau S. 

On the move hieß ein Workshop, den ich am IIT in Indien hielt und dessen Titel ich Kim Sooja entwendet hatte und ihrer von mir sehr geliebten Performance, in der sie ihre eigene Migration perpetuiert. Die meisten der Studierenden, die dort vor mir saßen, während ihr Professor mein Baby auf seinem Arm wiegte, hatten Indien noch nie verlassen. Aber dennoch kamen sie von weither: aus staubigen Dörfern oder grünen Bergen waren sie nun in einer Megacity gelandet, auf einem riesigen Campus voll Beton. Ich meine einmal gelesen zu haben, dass mehr als ein Drittel der Inderinnen und Inder innerhalb ihres Landes migriert sind. 

Die Erfahrung der Migration, so sagt die Psychotherapieforschung, braucht mehrere Generationen um seelisch verarbeitet zu werden. Die erste Generation kümmert sich ums äußere Ankommen. Erst die nachfolgenden widmen sich den inneren Dimensionen und, wenn es glückt, der Integration beider Kulturen in einem Herzen. 

Bis dahin bleibt immer das Hinfühlen zum anderen Land: das, indem man gerade nicht ist, und die Bilder, davon, wie es dort ist, am anderen Ort. Bilder, die sich wandeln, verändern, verselbständigen, angereichert mit dem Stoff aus dem Träume sind. 

Je länger wir zurück sind, desto mehr wandelt sich Indien in meiner Erinnerung. Das Indien, das ich von Deutschland aus fühle ist immer wieder neu und es ist ein anderes als das, was ich in Indien tatsächlich erlebte. Ebenso wie das Deutschland, nach dem ich mich von Indien aus sehnte, ein anderes ist, als das, in dem ich lebe. 

Indien ist abgründig. Deutschland ist kalt. Indischer Boden ist getränkt von Heiligkeit. Deutscher Boden ist fest, stark, verlässlich. Indien ist Chaos, Deutschland ist Ordnung. Indien ist Fließen, ist Durchlässigkeit, Deutschland ist Einfrieren, Erstarren, Verpanzern. Indien ist Gewalt, Deutschland ist Freiheit. Indien ist grausam, Deutschland hart. Indien ist jahrtausendealte Einheit. Und jahrtausendealte Ungleichheit. Intuition, Irrationalität. Deutschland ist Aufklärung, Gleichheit, Rationalität, Verstand. Es bleiben Kippbilder, Bilder die umspringen, je nachdem, aus welchem Winkel man sie betrachtet. 

In Indien, sagt M. gab es immer einen Lebensweg jenseits von Beruf und Familie. Zumindest als Mann konnte man sich für ein spirituelles Leben entscheiden, ein Leben in Askese und Heimatlosigkeit. Ein Leben lang sind die Sadhus unterwegs, die Heimatlosen, die sich ganz ihrer spirituellen Suche verschrieben haben. Die Sadhus, manche ganz nackt, andere in orangene Tücher gekleidet, werden respektiert, während es in unseren Kulturen meist einen Geschmack des Scheiterns hat, wenn jemand nicht der Konvention folgt. 

Sabba Ko Mangal He, schreibe ich der Nachbarin. Kennst du das? 
May everyone be prosperous, antwortet sie. 
Aber heißt mangal nicht Liebe?
No, it means prosperity from heart.
Aber ist prosperity from heart, Reichtum des Herzens, Erblühen des Herzens nicht das, was Liebe ist?
Yes, in a way mangal word is used for blissful love, schreibt die Nachbarin. Glückselige Liebe. 

Und M. sagt, mitten in die Stille hinein: How would life be received in a climate of complete welcome?