You like it more than anybody else, sagt die Nachbarin und lacht mich ein bisschen aus. Ich nicke. Schau dich um, sage ich. Hier atmet alles. Hier kann auch ich atmen.
Wir sitzen unter einem großen Spitzdach, auf einer Art Hochbühne. Ringsum keine Wände, dafür Geländer aus dünnem Bambus. Bäume, die Schatten spenden, ein paar Ventilatoren. Es ist angenehm, jedenfalls jetzt am Vormittag. Keine AC. KEINE AC! Und das zu dieser Jahreszeit, wenn die Hitze am größten ist! Was für ein Glücksfall. Überhaupt löst dieser Ort eine derartige Fülle an Glücksgefühlen in mir aus, dass ich mir selbst wunderlich erscheine: So reagiere ich also, wenn meine Werte bestätigt werden.
Aber man könnte auch sagen: So reagiere ich, wenn ich mich einfach wohlfühle. Wenn ein Ort mich inspiriert. Wenn es wenig Störungsempfindungen gibt. Die habe ich nämlich in Indien häufig: eiskalte Klimaanlagen, übersteuerte Lautsprecher, übereifriges Servicepersonal, das mir auf die Pelle rückt, mangelnde Hygiene, eklige Gerüche, Lärm und Abgase, totfrittiertes Essen, falscher Pomp aus schlechtem Material, um einige davon zu nennen.
Ich weiß, es klingt arrogant. Es ist die Arroganz einer extrem privilegierten und einigermaßen sensiblen weißen Person, die unter extrem günstigen Bedingungen, und zum großen Teil ganz ohne ihr Verdienst, leben durfte. Die jetzt am Rande einer indischen Megacity lebt, in der sich Modernität und Tradition in einem irrsinnigen Spiel ständig die Bälle zu werfen, in der all zu viele und mächtige Sinneseindrücke sich benehmen wie ein aufdringlicher Verehrer, in mich eindringen als hätte ich keine Haut. Diese Arroganz, diese Empfindlichkeit entstammt dem unfassbaren Reichtum, den ich gewohnt bin. Ich erschrecke immer wieder, wenn mir das bewusst wird.
Die Doktorandinnen, die mit uns mitgekommen sind, kichern leise, über ihre mit Bananenblatt ausgelegten Teller gebeugt. Als die Nachbarin mir sagte, dass zwei weitere Personen mitkommen zu unserem Frühstücksbesuch bei Paaka, hatte ich geantwortet, dass wir dann ja doch zwei Autos bräuchten. Ich gebe meinem Fahrer Bescheid, sagte ich. Faul nannte der Nachbarsjunge mich, weil ich einen Fahrer habe. Er weiß nicht, wie viel lieber es mir wäre, ich könnte selbst fahren. Die Nachbarin fährt übrigens auch nicht selbst, überlegt aber, ob sie sich nicht an unserem Fahrer beteiligen soll. So ist sie nämlich darauf angewiesen, dass ihr Mann fährt. Und steckt ansonsten im Haus fest. Mach es sage ich ihr. Unabhängigkeit! Einer meiner wichtigsten Werte.
Die Nachbarin jedenfalls lachte nur über meine Platzsorgen im Auto und sagte: Du vorne mit dem Mädchen. Hinten drei Erwachsene und zwei Kinder. Okay, sage ich. Wir machen es the Indian way. Das Tolle mit der Nachbarin ist, dass man das sagen darf. Sie und ich sind anders, tun Dinge anders, legen auf andere Dinge wert. Es darf sein. Es ist ausgesprochen, ohne dass jemand sich doof fühlen oder verbiegen muss deswegen. Wir gehen aufeinander zu und bleiben doch auch verschieden.
Wir parken die Autos, gehen auf das Lokal zu. Auf den ersten Blick sehe ich, dass es mir gefällt. Ich genieße alles an diesem Frühstück: Der kleine Blumenstrauß am Eingang, der kleine Markt im Eingangsbereich, die Körbe mit Obst und Gemüse, von Biohändlern aus der Umgebung. Das einfache, aber schöne und bewusste gestaltete Lokal mit Holzmöbeln und Grassmatten an den Wänden, die, werden sie feucht gehalten, für Schatten und Kühlung sorgen. Das Lokal ist L-förmig, nach innen hin offen zu einem Hof, der mit einer großen grünen Plane überspannt ist. Der Fußboden ist nichts als unasphaltierte, festgetretene rote Erde, auf der wir barfuß umhergehen.
Wir steigen eine etwas wacklige Bambustreppe in den oberen Stock, lassen uns auf Matten an niederen Tischen nieder. Leise Jazzmusik klingt zu uns hinauf. Die Kinder fangen sofort an, herumzurennen, und wie immer in Indien stört das niemanden. Sie setzen sich an andere Tische und schauen neugierig, was dort gegessen wird. Kommen dann wieder her gerannt und schreien, sie wollten nun auch Wassermelonensaft haben.
Unten beim Buffet holen wir uns Essen, in Tontöpfen steht es dort aufgereiht. Fast jedes Gericht enthält Millet, also Hirse. Reis ist in Indien wesentlich verbreiteter und beliebter, aber Reis braucht sehr viel Wasser im Anbau. Wasser, das es in Indien häufig nicht gibt und immer weniger geben wird. Also versucht man Hirse attraktiver zu machen. Hier gibt es Hirse-Dosa, Hirse-Idli, Hirse-Puri und es schmeckt alles lecker und frisch und wunderbar. Es gibt typisches südindisches Essen. That’s it. Das ist mehr als genug. Und es ist weitestgehend bio.
Das Wasser wird in kleinen Glasflaschen serviert. Kein Plastik weit und breit. Die Papierservietten sind noch das letzte, was von dieser Mahlzeit für Müll sorgen wird. Hier denkt jemand mit. Ich habe noch keinen Ort dieser Art in dieser Stadt gesehen. Er zeigt mir: Auch hier ist das Neue. Ich kann die neue Welt hier atmen hören.* Eine Welt, die die Ressourcen der Erde respektiert. Eine Welt, die Grenzen anerkennt und liebevollen einfallsreich damit umgeht. Und das macht mich glücklich.
Den anderen gefällt es auch. Die Doktorandinnen verraten mir, dass es das Lokal schon zwei Jahre gibt, dass sie es aber niemandem verraten haben. Ihr müsst es weitererzählen, rufe ich! Sie sollen Erfolg haben! Dann wird es mehr solcher Orte geben! Orte ohne Müll, ohne AC! Orte, die mit lokalen Ressourcen gebaut werden und keinem falschen Luxus hinterher eifern! Orte, an denen traditionell gekocht wird, aber aber regional, saisonal, bio!
Alle amüsieren sich ein bisschen über meinen Eifer und meine Begeisterung.
You like it more than anybody else, sagt die Nachbarin, und das Bindi zwischen ihren Augen leuchtet wie ein drittes Auge.
*Diese Aussage bezieht sich auf das bekannte Zitat von Arundathi Roy: „Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon im entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich sie atmen hören.“