In Indien begonnen, irgendwann im September 2018. Fertiggeschrieben im Januar 2020 in Deutschland.
Die Zukunft ist ein plastisches Gebilde.
Tage wie dieser sind Tage, an denen wir alleine sind, das Mädchen und ich.
In den frühen Morgenstunden, wenn es zum ersten Mal wach wird, hole ich das Mädchen aus ihrem Zimmer zu mir ins Bett und liege wach. Als der Wecker klingelt, bin ich müde. Wir müssen jetzt früh aufstehen, jetzt, wo das Kind in die Kita geht, während wir die letzten Jahre ohne Wecker lebten. Ich habe ich ihn nicht vermisst. Ich suche mein Gedächtnis nach Träumen der letzten Nacht ab, finde aber nichts. Der Wecker ist ein Träume-Dieb.
Tage wie dieser sind Tage, die lang ausgestreckt vor mir liegen, durchbrochen von alltäglichen Verrichtungen, Mahlzeiten, Spaziergängen.
Mein Mental Loud ist im Vergleich zu vielen anderen Müttern, insbesondere in Deutschland, gering. Zwar übernehme im Moment auch ich einen Großteil der Care-Arbeit in unserer Familie, aber: Wir haben nur ein Kind. Und wir leben in Indien. Ganz vieles, was zu Hause an Arbeit anfallen würde, fällt hier einfach weg. Weil es Hilfe gibt. Weil es dazugehört, Hilfe zu haben und von dem guten Gehalt, das wir haben, etwas abzugeben: an eine Haushaltshilfe, einen Fahrer, eine Gärtnerin.
Und weil es einfach nicht so viel zu tun gibt hier. Kaum Termine oder Hobbies. Der Alltag ist leerer, als ich ihn mir in Deutschland je denken könnte. Das ist gut und schlecht. An guten Tagen genieße ich es. An schlechten langweile ich mich, fühle mich ausgeschlossen, außen vor, ohne Teilhabe. Dann meckere ich, wie schwer ich es hier habe als Frau, und das stimmt ja auch. Ich bin deutlich eingeschränkter.
An Tagen wie diesen sitze ich müde auf dem blauen Sofa der Parents Lounge der internationalen Schule und sehe das Mädchen mit seiner Wasserflasche in der Hand zur Turnhalle gehen. Wir sind noch in der Eingewöhnung Ich trinke Kaffee und fröstle unter der Klimaanlage. Den Laptop auf den Knien schreibe ich. Höre die Sprachnachrichten einer Freundin, die sagt:
Ich erinnere mich noch sehr gut an dich, kurz bevor ihr nach Indien gegangen seid. Du wolltest diesen Wechsel, du wolltest aus den Bezügen heraus. Sehen, was dann passiert.
Es ist dieselbe Freundin, die zu mir sagte: Die Zukunft ist ein organisches plastisches Gebilde, gerade wenn es um so große Wechsel geht, von einer Kultur in eine andere. Es wird von Euch beiden ständig neu geformt.
Tage wie dieser sind jetzt, da ich diesen Text beende lange schon her. Tage wie diese gibt es jetzt nicht mehr, sie sind anders jetzt und wie genau, das bin ich immer noch dabei, herauszufinden. Die Gewichte haben sich verschoben und tun es immer noch. Arbeit und Sorge-Arbeit wandern nun anders hin und her.
Der Alltag ist wieder komplexer hier. Und in der Luft liegt ein gewisser mentaler Stress, den es so in Indien nicht gab. Nicht in mir und nicht in der Luft. Es ist ein Stress, den ich in den Gesichtern lese, in den Körpern, die sich durch dichte Tage kämpfen wie durch verworrenes Dickicht.
Dafür aber war die Luft in Indien schlecht, der Staub schwarz und ich weiß noch genau, wie es ist, wenn die Lungen und die Haut sich verschließen und man nicht richtig atmen kann. Jetzt kann ich den Schwarzwald nicht nur sehen, sondern riechen, wenn ich das Haus verlasse.
Immer noch wird es Tage geben, an denen das Mädchen und ich alleine sind, bald schon, und nicht wenige.
Und immer noch ist die Zukunft ein plastisches Gebilde, ein seltsames, sich ständig wandelndes Tier. Doch wir formen es immer mutiger, wir drei und es offenbart immer mehr von dem, was für uns zählt.
Und von Tagen wie diesen bewahren wir uns: Ungestörtsein, Zeitlosigkeit.