Was hier in Indien in meiner Erfahrung wirklich toll ist: Kinder stören nicht. Sie dürfen dabei sein. Und nicht nur das: alle sind um ihr Wohlbefinden besorgt, fühlen sich mit verantwortlich. Ein Kind hier ist das Kind aller, es ist im Schoß des Kollektivs geborgen. Mit allem was das an Vorteilen und Begrenzungen mit sich bringt. Ob im Kino, beim Konzert, im Restaurant, im Tempel: Kinder sind Kinder. Immer werden sie freudig begrüßt.
Wenn in Deutschland ein Kind schreit, zum Beispiel in einem öffentlichen Verkehrsmittel, in einem Museum, selbst im Supermarkt, dann fühlt sich schnell jemand gestört. Eltern wie Kind ernten Blicke, Augenrollen, genervte Kommentare. Oder auch schnell mal den Hinweis, dass ein Kind ja hier wohl nichts zu suchen habe.
Vor einiger Zeit erst las ich in einem Infoschreiben eines deutschen Ausbildungsinstituts, dass Babies im Seminarbetrieb nichts zu suchen hätten. Da hat wohl jemand sich getraut, sein Baby mitzubringen. Und jemand anderer fühlte sich gestört. Schade, dass das nicht bilateral geklärt werden konnte. Wenn Babies nicht dabei sein dürfen, wird es auch für die Väter und Mütter so viel schwieriger. Von Alleinerziehenden gar nicht zu reden.
Was würden Sie machen, fragte ich einen Seminarleiter desselben Instituts einmal unter vier Augen, wenn ich mit meinem Baby in Ihr Seminar käme? Da war meine Tochter gerade ein paar Monate alt und ich hatte große Lust und auch das Bedürfnis, mal wieder einen Vortrag, ein Seminar zu besuchen. Ich würde Sie in die erste Reihe setzen, sagte er mir. Diese Antwort wirkt bis heute in mir nach. Selten hatte ich das Gefühl, so viel Wertschätzung und Würdigung meines Mutterseins zu erfahren.
Derselbe Mann, der übrigens Anfang 70 ist und selbst Vater von drei Kindern, ermutigte mich, mein Kind ins Tuch zu binden und mitzunehmen, wann immer es geht. Sie müssen all ihre Anteile leben, sagte er mir, sonst werden sie unglücklich. Und da hat er wohl recht.
Aber ich wollte ja eigentlich erzählen, wie ich es hier in Indien erlebe. Meine Tochter war 3 oder 4 Monate alt, als ich für einen zweitägigen Workshop an einer Designhochschule eingeladen wurde. Mache ich gerne, sagte ich. Meine Tochter war in der Manduka, auf ihrer Spieldecke in der Mitte des Raums. Der Professor, der mich eingeladen hatte, ging mit ihr spazieren. Die Studierenden rissen sich darum, sie auf dem Arm zu halten. Wir machten Pause, wenn sie stillen wollte oder gewickelt wurde. Es war anstrengend, mit den Studierenden zu arbeiten und gleichzeitig für das Wohl meiner Tochter zu sorgen, sicher. Aber es war auch wunderbar, zu sehen, dass es geht. Dass ich Mutter sein kann, und trotzdem noch alles, was ich sonst noch bin und sein möchte.
Wenn ich nicht so weit weg wäre, würde mir wohl kaum auffallen, wie oft Kinder in Deutschland ausgeschlossen werden, wie oft sie nicht erwünscht sind. Die jungen wie die alten Menschen werden bei uns in Einrichtungen abgeliefert. Das finden viele Menschen aus vielen anderen Kulturen ziemlich seltsam. Und je länge ich aus Deutschland weg bin, desto seltsamer finde ich es auch.
Ja, es gibt Räume, in denen Kinder nichts zu suchen haben, die sinnvoller Weise nur für Erwachsene sein. Es gibt aber auch sehr viele Räume und Situationen, in denen sich Erwachsene sehr schnell gestört fühlen. Durch ihre Lebendigkeit, ihre Energie, ihre Unverstelltheit, ihre Lautstärke. Immer wieder stoße ich an diese unsichtbare Grenze, die gezogen wird. Sie ist subtil, oftmals nicht mal bewusst, vielleicht nicht mal ausgesprochen. Aber trotzdem ist sie spürbar. Ich spüre es an daran, dass sich in mir Stress entwickelt: Oh je, was wenn sie laut ist, wenn sie dies oder das macht. Diesen Stress spüre ich hier in Indien sehr viel seltener.
Ich wünsche mir sehr, dass diese Grenzen sich öffnen. Dass Kinder dabei sein dürfen, lernen dürfen von uns, und wir von ihnen. Dass wir Erwachsenen lernen uns zu fragen: Ist das jetzt wirklich eine Störung? Oder fühle nur ich mich gestört, weil ich eine fixe Vorstellung habe davon, wie es sein soll? Kann ich diese Vorstellung überprüfen? Ist sie wirklich wahr? Kann ich in diesem Moment bei dem bleiben, was ich gerade tue, und trotzdem innerlich weich sein, verbunden sein, in der Liebe sein, die dieses kleine Wesen möglicherweise in mir weckt?
Denn auch das sehe und fühle ich hier, und ich freue mich darüber: Geliebt werden nicht nur die eigenen Kinder. Geliebt wird das Kind an sich. Weil es Zukunft ist. Weil es ein Wunder ist. Weil das Kind immer auch das göttliche Kind ist, in dem alles aufleuchtet, was auf dieser Welt möglich sein könnte.
Ps: Natürlich ist Indien kein Paradies was Kinder angeht, sondern hat schreckliche Schattenseiten. Das ist ein anderes Thema. Darüber schreibe ich ein andermal.
Natascha Ortinger sagt:
Wie wahr… leider haben wir auch schon Erfahrung mit unserem “störenden” kleinen Kind gemacht – noch nicht einmal im Kongress-Vortrag selbst sondern danach im Hotel. Aber wir haben auch schon gute Erfahrungen gemacht – hoffentlich ein gutes Zeichen, dass sich in Deutschland dies bezüglich etwas bewegt. Manchmal müssen wir Eltern uns vielleicht auch einfach ein bisschen trauen…
Ich bin neugierig geworden und freue mich auf mehr… viele Grüße in die Ferne!
ankafalk sagt:
Lieben Dank, Natascha, ich freue mich, dass Du hier mitliest!
Bärbel sagt:
Hallo, liebe ankafalk, lange habe ich über deine Worte nachgedacht. Mir geht es um die Stelle über das Weggeben der alten Menschen. Als ich jung war, konnte ich es mir auch nie vorstellen, so etwas meinen lieben Eltern anzutun. Was wusste ich damals schon von Demenz! Meine Mutter ist 94 Jahre alt , dement , inkontinent und nimmt sich selbst völlig unrealistisch wahr. Sie kann in keiner Weise mehr selbst für sich sorgen. Sie vergisst zu essen , auf Toilette zu gehen usw. Sie braucht Begleitung den größten Teil des Tages. Wer aber soll das leisten? Ich müsste meine Arbeit kündigen. Wovon sollte ich dann leben? Wie wenig Rente bekäme ich später noch?
Wie wirkt sich dieser 24 Stunden job auf meine Ehe aus? Wie könnte ich dann noch meiner Tochter mit ihren 2 kleinen Kindern beistehen?
Seit 17 Jahren, seit mein Vater starb, sorge ich für meine Mutter. Doch die zunehmende Demenz macht vieles unmöglich. Hilfe von mir oder aussen nahm sie immer weniger an.
Was tun mit dem völlig verschimmelten Kühlschrank, der verdreckten Wohnung, der ungewaschenen Kleidung, die sie nicht wechseln will ? Es endet in Streit und Tränen. Jetzt lebt Mutter in einem Heim in meinem Heimatort. Ich besuche sie regelmäßig. Wir singen und lachen , gehen spazieren, schauen alte Fotos an. Wir haben nun Freude aneinander und Zeit.
Ein Heim für Mutti wollte ich nie. Jetzt ist es die beste Lösung für uns alle.
Liebe Grüße nach Indien aus dem Erzgebirge in Deutschland
ankafalk sagt:
Liebe Bärbel,
vielen Dank für diesen ausführlichen und nachdenklichen Kommentar. Das klingt nach einer guten Lösung zum Wohle aller Beteiligten, die Ihr gefunden habt. Sicher war das kein einfacher Prozess. Es sind eben gesellschaftliche Rahmenbedingungen und auch kulturelle Perspektiven, die in unser Privates mit hineinwirken. Mir geht es sicher nicht um eine einseitige Bewertung individueller Lösungen…Manchmal kann uns nur der Blickwinkel von einem anderen Ort der Welt aus auch anregen, Dinge anders oder neu zu sehen. Und ich wünsche mir Lebensverhältnisse, in denen die verschiedenen Lebensalter und Generationen miteinander verwoben werden können. Es ist ein Wunsch nach Gemeinschaft, nach Teilhabe für alle, nach weniger Trennung. Herzliche Grüße ins Erzgebirge!