Mother India. Ich bin in Indien Mutter geworden. Auch wenn ich zur Geburt zurück nach Deutschland kam – der Boden, auf dem ich Mutter werde, ist Indien. Nicht nur meine Tochter hat hier ihre ersten Lebensjahre verbracht. Auch ich bin hier nochmals an den Ursprung zurückgekehrt.
Denn die Mutter oder der Vater, wer auch immer mit dem Baby diese erste Zeit verbringt, kehrt selbst noch einmal in diese allerfrüheste Zeit des Lebens zurück. Sonst könnte sie oder er die Signale des Babies nicht verstehen.
Zurück an den Ursprung. Für mich liegt diese Zeit eingebettet zwischen Kichererbsenfeldern und indischem Großstadtchaos, eingebettet in die Rufe des Muezzins, die Trommeln, die Gesänge aus den Hindu-Tempeln, in den Gestank der umliegenden Fabriken und ihre verheerenden Folgen für die Gewässer. Für mich schmeckt diese Zeit nach Reis, Dal und Chapati, Dosa und scharfem Chutney, nach Wassermelone und Papaya.
Über Jahre hinweg habe ich mich eingenistet, mit unserem Baby, mit unserer kleinen Familie, in dieses Haus mit der Mauer ringsum, mit dem Bambus-Tapchan im Garten, der Dusche im Freien, über der über die Jahre hinweg eine von mir gepflanzte Passionsfrucht-Pflanze wuchs und sich zur Laube spann.
Der mir nächste Mensch dieser Zeit, neben meinem Mann und meiner Tochter, wurde über die Jahre meine Nachbarin. Fraglos geteilter Alltag, der nicht viele Worte brauchte. Erst zurück in Deutschland fiel mir auf, wie sehr meine Kontakte und Beziehungen dort durch das Wort dominiert sind. Und auf einmal empfand ich, als müsse in Deutschland alles zerpflückt und zerredet werden. In Indien hingegen genügt manchmal eine leichte Bewegung der Augen, ein Zucken der Wimpern, und alles ist gesagt.
Über Jahre hinweg war ich raus aus den Strukturen, die bis dahin mein Leben bestimmten: Rhythmen von Arbeit, die meine Tage dominierte, Rationalität und Vernunft, die Entscheidungen (scheinbar) bestimmten, der Geist der Aufklärung, der unsere Kultur von Grund auf prägt.
Als Frau fühlte ich mich in Indien eingeschränkt. Ich fühlte mich weniger frei. Ich konnte Gefahren schlechter einschätzen. Ich hatte mehr Angst. Ich schränkte mich selbst mehr ein. Ich war in vielem abhängiger von meinem Mann. Ich bewegte mich in einer seltsamen Unschärfe.
Als Mutter bewegte ich mich auf Boden, der von mächtigen weiblichen Gottheiten geprägt ist: Kali, Durga. In tagelangen Ritualen wird weibliche Urkraft in Indien gefeiert und verehrt. Wohl wissend, dass diese Urkraft bergende und schöpferische Anteile hat, aber auch zerstörerische und todbringende. Es ist ein von Intuition geprägter und spirituell getränkter Boden, überwachsen von dem verrückten Chaos des heutigen Indien, seinen Abgründen und Grausamkeiten, von unbarmherziger Ungleichheit, erdrückender Armut, entsetzlicher Umweltverschmutzung, rasender, wuchernder städtischer Entwicklung.
Doch der Boden darunter scheint davon seltsam unberührt. Ich nahm das nicht wahr, so lange ich dort war. Es ist etwas, was sich erst jetzt in mir niederschlägt.
Ich bin in Indien Mutter geworden. Ich trage „Mother India“ in mir. Ein bisschen fühlt es sich an, als sei ich dort von tausend Armen getragen und gehalten worden. Es ist nichts, was ich begreifen könnte mit meinem westlichen Verstand. Ich kann es nur ahnen und staunen.