Wie ich ein einziges Mal in Indien Stiefel trug

Silvesterabend. Es ist kalt hier, kälter als es in den letzten drei Wintern, die wir schon in Indien sind, je war. Mein Kleiderschrank ist gar nicht darauf vorbereitet, eine einzige Kapuzenjacke habe ich hier, die trage ich tagaus tagein.

Wir gehen heute zur Silvesterparty. Hier auf dem Campus. Auf dem Tennisplatz. Alle, die auf dem Campus leben, feiern zusammen.

Ein bisschen schick machen sollten wir uns schon, sagt mein Mann. Was, sage ich? Ich habe nur das hier. Ich zeige auf meine Kapuzenjacke.

Dann fällt mir die Box ein, die ganz oben in meinem Schrank liegt, mit Mottenschutz aus Auroville versehen. Ich krame eine wollene Strickjacke heraus, die nach Zedernöl riecht. Eine schwarze Jeans. Schwarze, eingestaubte Stiefel. Mit Absätzen. Meine Güte, denke ich, die habe ich nicht getragen, seit wir nach Indien gegangen sind.

Ich ziehe mich an, zwei Sweatshirts unter die Strickjacke, Ohrringe, ein bisschen Schminke.

Das Mädchen schaut auf meine Schuhe und sagt WOW in diesem irren Tonfall, den sie neuerdings drauf hat.

Ich muss lachen.

Gerade heute hatte ich ein Fotobüchlein durchgeschaut, mit Bildern, kurz vor der Ausreise. Ich trug dasselbe Outfit. Bald vier Jahre her ist das. Seither bin ich nach Indien gezogen, schwanger geworden, habe ein Kind geboren, ein Projekt abgeschlossen, diesen Blog begonnen, ein Jahr lang ohne festen Job und Entlohnung gearbeitet, an Dingen, die mir wichtig sind. Aber ohne Sichtbarkeit. Eine irre Erfahrung. Ein bisschen fühle ich mich, als sei ich die ganze Zeit unsichtbar gewesen. Und als verschwände das Gefühl in dem Moment, als ich in die Stiefel schlüpfte.

Wie anders man in solchen Schuhen geht. Tatsächlich trage ich hier fast ausschließlich Flipflops. Es ist warm, ich ziehe die Schuhe ständig aus und an…

Ich bin nicht die einzige Mutter, die sich pragmatisch kleidet, seit sie Kinder hat. Aber das ist nicht alles. Da ist noch etwas anderes. In Deutschland kleide ich mich schicker, richte mich sorgfältiger her, und das hat auch damit zu tun, dass ich mich dort viel mehr in öffentlichen Räumen bewege. Es sieht mich hier fast niemand. Es gibt Frauen, die behaupten, sie würden sich nicht für die Blicke anderer Menschen hübsch machen. Schon gar nicht für die von Männern. Für mich ist das nicht so. Die Resonanz anderer Menschen gehört dazu. Auch Zugehörigkeit drückt sich über Kleidung aus. Das hat für mich in Deutschland aber eine ganz andere Bedeutung. Denn das hat auch mit Kodierungen zu tun. Dinge, die etwas bedeuten. Dinge, die hier nichts bedeuten oder nicht verstanden werden.

Und da ist noch etwas anderes: Ich habe kein besonderes Interesse daran, hier besonders schön oder begehrenswert auszusehen, denn ich will gar keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Da ist diese Angst, von der ich nie so recht weiß, wie, wann und wo sie berechtig sie ist. Ich mag nicht zu viele Blicke auf mich ziehen, denn ich weiß, wie unangenehm die sein können. Von Schlimmerem gar nicht zu reden. Es gibt sie, die Gelegenheiten, zu denen ich mich schicke mache hier. Aber sie sind seltener.

Und ja, es gibt auch hier kurze Röcke und Shorts und weit ausgeschnittene Kleider. Auf bestimmten Veranstaltungen, bei Tango oder Salsa, oder auch in Cafes, bei gewissen Veranstaltungen, an Orten, an denen Menschen unterwegs sind, deren Lebensstil meinem ähnelt.

Im öffentlichen Raum sehe ich nackte Beine, Schultern oder Dekolletes jedoch sehr selten. Auf der Straße dominieren fast ausschließlich Saris, Kurtas, Duppatas und bisweilen auch schwarze Burkas. Oft sehe ich sowieso mehr Männer als Frauen. Die Frauen aber tragen immer Schmuck. Immer. Ein paar Armreifen und Ohrringe sind das mindeste. Dazu kommen Fußkettchen oder dicke silberne Fußreifen und Rosen- oder Jasminblüten im Haar.

Es gibt noch einen dritten Grund, warum ich viele meiner Kleider aus Deutschland nicht mehr trage: In Deutschland kaufte ich gerne besonders Schönes aus besonders gutem Material. Eine Bluse mit aufwändiger Stickerei. Ein Kleid aus Baumwolle-Seide. Ein Rock eines Berliner Designer-Labels mit dezentem Muster. Die Bluse holte ich nach der Regenzeit vergilbt aus dem Schrank. Das Seidenkleid, die Spitze am Saum ebenfalls vergilbt, ist spröde geworden. Als ich es überstreife, bricht der Stoff. Der Rock: hat Flecken unbestimmter Art, die unsere Maschine nicht mehr rausbekommt. Sie ist nicht so wahnsinnig tüchtig, unsere Maschine. Allerdings dauerte es auch eine Weile, bis ich herausfand, dass unsere Hausangestellte alles im Wollprogramm wäscht.

Vieles also, was ich mal trug, ist einfach nicht mehr tragbar. Die Feinwäsche-T-Shirts aus Ökobaumwolle halten das viele Schwitzen und Waschen im tropischen Klima auch nicht ewig durch.

Komm, sage ich zum Mann, wir machen ein paar Bilder. Ich lächle in die Handykamera, mit all den neuen Fältchen, die ich in den vier Jahren hier bekommen habe. Klick.

Ein Foto bevor das Jahr endet.

Ein Foto bevor unsere Zeit in Indien endet.

Denn noch bevor das neue Jahr seinen Zenit erreichen wird, werden wir dieses Land wieder verlassen.

Und dann werde ich die Flipflops wieder gegen Stiefel tauschen.

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