Sie sind immer im Haus, sagt die Frau, die neben mir im Flugzeug sitzt und ihr Baby stillt. Sie stammt aus Indien und hat gerade ihre Cousinen in Punjab besucht, lebt aber selbst in Deutschland. Ist doch komisch, fährt sie fort. Die Männer gehen aus, bis spät abends manchmal. Ihre Frauen wissen nicht wohin sie gehen oder wann sie zurückkommen. Sie sind traurig darüber, aber sie sagen: das ist mein Leben. Sie sehen keine Möglichkeit, das zu ändern. Ich bin froh, dass ich in Deutschland lebe, sagt die Frau.
Auch ich bin viel im Haus hier. Seit ich in Indien bin, verbringe ich deutlich mehr Zeit zuhause als jemals zuvor. Unser Haus ist ein kleines Haus, einstöckig, mit 4 Zimmern, 2 Bädern und einer Küche. Es hat vorne einen Garten und hinten einen Garten, den man nicht wirklich Garten nennen kann, sondern eher Grünstreifen. Haus und Garten von hohen Mauern umgeben. Das mit den Mauern ist schlecht, sage ich, da ist man so abgeschnitten. Es ist aber auch gut, sage ich, da ist man sicher. Es ist gut, sagt mein Mann, denn keiner kann reingucken und wir können nackt im Garten duschen. Manchmal schreibe ich mit Kreide Gedichtzeilen an die Mauern.
Ich habe ein Zimmer für mich allein in diesem Haus, so wie sich das Virginia Woolf immer gewünscht hat. Und auch ich habe mir das gewünscht. Ich arbeite sehr gerne hier in meinem Zimmer. Ich bin gerne allein. Inzwischen stehen allerdings auch einige Körbe mit Spielsachen meiner Tochter in diesem Zimmer, und mit dem Alleinsein klappt es nicht immer so gut und das ist auch nicht schlimm, denn ich genieße die Gesellschaft des kleinen Mädchens überaus. So oder so, ich habe ein Zimmer für mich allein und diese Zeit hier, allein, weit weg von allem, was mein Leben in Europa bestimmte, ist ein ganz einzigartiger Raum. Ein innerer Raum vor allem. Zeit haben – etwas was ich in Deutschland selten hatte.
Meine wunderbare kleine Tochter wird jetzt bald zwei. Im ersten Jahr brauchte es nicht viel. Wir waren einfach nur froh, beieinander zu sein. Keine Spielgruppe, Babymassage oder was auch immer für Kurse man da alles machen könnte. Es hat mir auch nicht gefehlt. Jetzt, im zweiten Lebensjahr bin ich froh, dass wir engeren Kontakt geknüpft haben zu einigen anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Mein Mädchen will draußen sein, möglichst den ganzen Tag. Aber einen Gutteil des Tages sind wir im Haus.
Wenn wir das Haus verlassen, dann vor allem um auf dem Campus herumzuspazieren zwischen den Kichererbsen- und Hirsefeldern und Parkanlagen. Morgens machen wir einen ersten Rundgang, gleich nach dem Frühstück. Mittags treffen wir den Papa und essen Reis, Chapati und Curry in der Kantine. Abends spielen wir mit den Nachbarskindern auf der Straße Kricket und Ball. Wir gehen zum Pool und tanzen Tango in einem Raum mit Spiegeln, den sonst keiner nutzt oder fahren mit dem Rad eine Runde über die Felder.
Einkaufen geht unser Fahrer mit einer Liste und einem Packen Geldscheine. Das meiste wird bestellt und nur von ihm abgeholt. Einkaufen ist anstrengend hier und macht nicht wirklich Spaß.
Wenn es heiß ist, gehen wir wirklich nur morgens und abends raus. Sonne ist hier weniger etwas, das man sucht, als etwas, vor dem man sich schützt. Und da das Haus diesen Schutz bietet, sind wir drinnen.
Ab und zu nehmen wir das Auto und lassen uns in die Stadt fahren. Das dauert 1-2 Stunden, und es bedeutet Stau, Abgase, Hitze. Allein in den drei Jahren, die wir hier sind hat sich die Verkehrslage spürbar verschlechtert. Tausende neuer Fahrzeuge werden jeden Monat angemeldet, aber die Straßen wollen einfach nicht mehr Platz machen, so sehr man auch hupt. Während des Monsuns kann es schon mal sein, dass man das dreifache der Zeit braucht, weil irgendwo Wassermassen eine Straße blockieren oder irgendwo irgendwas umgefallen ist oder keiner durch kommt weil einer krumm steht.
Mir wird fast immer schlecht, wenn wir in die Stadt fahren. Das ständige Bremsen und Anfahren, die Unebenheiten der Straßen, die Hitze und die schlechte Luft haben mir die Reisekrankheit zurückgebracht, die ich als Kind hatte. Ich überlege lieber zweimal, ob ich in die Stadt fahre oder nicht.
Also bin ich im Haus, wie viele indische Frauen auch. Der öffentliche Raum ist hier stärker von Männern dominiert: Sie stehen am Straßenrand und pinkeln oder stehen um Buden und trinken Tee. Es ist meistens nicht so wahnsinnig gemütlich. Frauen sieht man weniger und wenn sind sie meist von hier nach da unterwegs und nach Anbruch der Dunkelheit möglichst nicht mehr allein. Wer es sich leisten kann fährt Auto, Uber, Ola.
Was wollt Ihr mit Eurer Freiheit, um Sicherheit geht es doch, sagte mir einmal ein Inder. Sicherheit ist in Deutschland selten etwas, worüber ich mir Sorgen mache. Hier ist sie das Argument, warum Frauen lieber zu Hause bleiben (sollten).
Auf dem Campus einer der renommiertesten Hochschulen Indiens müssen Mädchen um 23.30 zu Hause sein. Jungs nicht. Aus Sicherheitsgründen. Zum Schutz der Mädchen. Die Väter sind froh, wenn sie wissen, dass für die Sicherheit ihrer Töchter Sorge getragen wird. Für Männer Freiheit. Für Frauen Sicherheit. Unsere Frauen wollen gar nicht raus, sagte mir einmal ein Inder. Und dass es aber eigentlich die Frauen seien, die das Regiment führten. Im Haus.
Wir waren 10 Jahre in Berlin, sagte mir mal ein Kollege meines Mannes. Am besten gefiel meiner Frau, dass sie sich einfach so frei bewegen konnte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Natürlich nutzen Frauen hier auch öffentliche Verkehrsmittel. Unsere liebe Hausfee kommt jeden Tag mit der Autorikscha, die Nanny der kleinen Spielkameradin meiner Tochter mit dem Motorroller und unsere liebe Gartenhilfe kommt zu Fuß. Mit unserem Fahrer spricht unsere Hausfee übrigens nicht. Ich spreche mit keinen Männern sagt sie. Was ist mit unserem alten Gärtner, sage ich, mit dem hast Du gesprochen. Ja, sagt sie, das ist ja ein Uncle. Das heißt: er ist so alt, dass man von ihm nichts zu befürchten hat. Ihn ruft sie sogar an und gratuliert zu Diwali, dem indischen Lichterfest.
Ich bin hier echt viel im Haus, sagte ich einmal einer Juristin, die bei uns Besuch war. Das erinnert mich an etwas, das ich im Studium las, antwortete sie: Scheinbar braucht es eine ganze Zeit für Menschen, die ins Gefängnis kommen, bis sie sich daran anpassen. Die ganze Wahrnehmung muss sich verändern, und das ist ein Prozess. Wir sind es gewohnt den Blick auch in alle möglichen Fernen zu richten, und das ist plötzlich nicht mehr möglich. Ich nicke. Ich denke an die Mauern, die unser Haus umgeben. An eine andere Expat-Frau hier auf dem Campus, die neulich erst sagte: This campus is my prison. Und ich denke an Nelson Mandela. An seine Jahre im Gefängnis. Und daran, dass er Shakespeare las. Es gibt ein Foto von der zerlesenen Shakespeare-Gesamtausgabe, die ins Gefängnis geschmuggelt wurde, in Karten für Diwali eingewickelt.
„Who will safe our girls“, hieß es vor einigen Monaten im Hindu, einer großen indischen Tageszeitung: „We need to speak up in anger for our girls. Not just keep them safe from assault, but to also protect their freedom to access the world, despite the fear of potential assault.”
Es gibt in Indien großartige Frauen. Mutige Frauen. Starke Frauen. Sie gehen auf die Straße. Genau dann, wenn und genau dahin, wo es gefährlich ist.
Das im-Haus-Sein, manchmal macht es mich glücklich, denn ich habe ein Zimmer für mich allein. Manchmal macht es mich unfassbar wütend. Manchmal traurig. Manchmal gehe ich dann raus. Und manchmal bleibe ich drinnen und denke an Nelson Mandela.