„I’ve had the time of my life“ dröhnt in einer Instrumentalversion aus einem unsichtbaren Lautsprecher und mir weht ein kalter Wind aus der Klimaanlage entgegen. Ich sitze auf einem Zahnarztstuhl, habe eine blaue Papierserviette um, deren lange Bändel der männliche Zahnarzthelfer in meinem Nacken zu einer Schleife gebunden hat und warte auf Dr. Ajay.
In Indien zum Zahnarzt zu gehen gehört zu den Dingen, die ich unbedingt vermeiden wollte. Bei jedem Heimataufenthalt ging ich zur Vorsorge und Prophylaxe und war guter Dinge, weil die letzten Jahre nie was war. Jetzt ist aber doch was. Zähneknirschend – das Knirschen ist übrigens schuld an dem Problem, das ich habe – suche ich mir also einen Zahnarzt in Indien.
Ich hatte blühende Phantasien, was Zahnärzte in Indien angeht, angeregt durch Fernsehreportagen über Straßenzahnärzte, deren Methoden mich an Pferdemetzger erinnern, obwohl ich mit Pferdemetzgern noch nie zu tun hatte. Zusätzlich zu diesen Bildern muss ich an Ragini (Name geändert) denken, eine der ersten Frauen, die mir hier begegnete und deren strahlendes Lächeln mich sehr an eines dieser Dracula-Gebisse zum in-den-Mund-Stecken erinnert. Nur die scharfen Eckzähne fehlen. Hinzu kommen allerlei Phantasien, was die Folgen mangelnder Hygiene angeht. Die üblichen Vorurteile einer Erstweltsozialisierten und man weiß eben nie so genau, ob sie berechtigt sind oder ob es Phantasmagorien zu tun hat.
Denn all dies ist eben nur die eine Seite der Medaille. Denn da ist auch das britische Pärchen, das wir jedes Jahr auf dem Tango-Festival in Auroville treffen und das vorher immer einige Tage in Goa verbringt, um sich die Zähne richten zu lassen. Denn natürlich kosten Zahnersatz und –behandlung hier nur ein Bruchteil von dem, was man in Deutschland bezahlen würde. Und natürlich gibt es auch hier gute Zahnärzte.
Mein Zahnarzt wirbt auf seiner Internetseite mit Sehenswürdigkeiten in Hyderabad und Assistenz beim Buchen von Flugreisen. Zahntourismus nennt man das wohl. Er gilt als der beste Zahnarzt der Stadt und an der Rezeption hängt neben zahlreichen Auszeichnungen auch eine Plakette, die eine geprüfte eigene Sterilisationseinheit verspricht.
Trotzdem bin ich recht nervös, während ich auf Dr. Ajay warte. Ich bemerke jeden noch so kleinsten Unterschied zu einer deutschen Praxis. Ich inspiziere mit kritischem und deutsch-peniblen Blick, wie die Instrumente arrangiert sind. Ich wundere mich mit hochgezogener Augenbraue über die Wattebäusche, wo bei uns doch festgepresste Tupfer verwendet werden. Ich schaue auf meine Akte mit den krakeligen Notizen und denke an die großen Macintosh Bildschirme, auf der in Deutschland akribisch der Zustand meiner Zähne, die Sorgfalt meiner Zahnpflege sowie jeder noch so kleine Behandlungsschritt notiert wird.
Dann kommt Dr. Ajay. Er ist vielleicht Anfang vierzig, hat strahlend weiße Zähne und strahlt Vertrauen aus. Er schwärmt von deutscher Ingenieurskunst, deutschen Autos und deutschem Fußball. Seine Ausbildung hat er irgendwo im Westen gemacht, ich habe vergessen wo.
Diese Woche hatte ich keine Beschwerden, meine ich. Ihr Zahn weiß, dass Sie zum Zahnarzt gehen, sagt er und zwinkert mir lachend zu. Von seiner Betäubungsspritze wird mir schummerig und wenn man auf einem Zahnarztstuhl nicht so sicher sitzen würde wie in einer Badewanne würde ich jetzt vom Stuhl kippen.
Wir warten ein bisschen, sagt Dr. Ajay. Ich erzähle von meiner Tochter, die jetzt gerade alleine mit meiner Hausfee ist, am anderen Ende der Stadt. Bringen Sie Ihre Tochter das nächste Mal mit. Wir haben eine Spielecke. Jeder hier wird gern mit ihr spielen, antwortet Dr. Ajay.
Und wieder lächelt er und schaut mich an, als spüre er genau, dass dieser Cocktail aus Anästhesie, Sorge um meine Tochter und Angst vor der Behandlung für den Schwindel sorgt, den ich fühle und ich bin überrascht, weil er gar nicht diese kühle nüchterne Professionalität an den Tag legt, die ich von Ärzten gewohnt bin. Dieser Zahnarzt hat ein bisschen mehr Zeit und ein bisschen mehr Gefühl. Seine Arbeit macht er mit Sicherheit, Leichtigkeit und Bescheidenheit. Ich habe beschlossen, ihm zu vertrauen.