Ein Montag im November oder #WMDEDGT

Früh beginnt dieser Tag, eigentlich schon lange bevor der Morgen graut. Alle zwei Stunden etwa schreckt das Mädchen aus seinem fiebrigen Schlaf und reißt die Augen auf, ein kleiner Schrei, ein kleiner Körper, der mich sucht, bevor er wieder in den Schlaf zurücksinkt. Müde bin ich als wir gegen sieben aufstehen, aber auch erleichtert, denn das Fieber ist gesunken. 3 Tage sind im Fieber versunken, erst der Mann, dann das Mädchen und dies ist der erste, der nun Besserung verspricht.

Fieber messen darf ich heute nicht mehr, lauten Protest gibt es den ganzen Tag, als müsse das kleine Mädchen seine Körpergrenzen verteidigen, die in der Hitze des Fiebers unscharf geworden sind.

Ich koche Hirsebrei, den das Mädchen nicht isst, wie es auch sonst den Tag über so gut wie nichts essen wird. Nicht einmal die Rosinen pickt es heraus, von denen es sonst nicht genug kriegen kann.

Es ist ein Montag, aber kein normaler Montag, denn eigentlich wären wir jetzt auf Reisen. Aber das Fieber. Das Fieber kam dazwischen und so haben wir alles storniert, Flug, Mietauto, Unterkunft und was das kostet, darüber denke ich nicht nach, denn es lohnt nicht, vergossener Milch hinterherzuheulen. Es ist wie es ist. Und wer das sagt wissen wir ja. Und als ich nachdem Frühstück nach meinen emails schaue ist da eine Nachricht aus der Robin Hoods Bay. Ach wie schade, dass wir nicht kommen. Und dass sie uns doch wenigstens 100 Pfund zurückerstatten wollen (obwohl wirklich nichts und niemand sie dazu verpflichtet). Gerne hätte ich diese Frau kennen gelernt, aber diese Reise werden wir wohl, nun, da sie abgesagt ist, nicht noch einmal in Angriff nehmen und die Robin Hoods Bay werde ich vermutlich nie im Leben sehen.

Nicht von meiner Seite weicht das Mädchen an diesem Tag – und ich kann es verstehen, denn selbst der kleine Bär und der kleine Tiger in Janoschs Traumstunde wissen, dass eine Spritze weniger weh tut, wenn man sich dabei umarmt, so wie jedes Weh weniger wird, wenn man die Körperwärme eines nahen anderen Menschen fühlt und sich darin geborgen weiß. Janoschs Traumstunde schauen wir ein paar Mal an diesem Tag, auf youtube, auf dem Handy. Diese 16 Minuten sind das erste, was einem Film gleichkommt, was das Mädchen sieht. Ich bin hingerissen von der Zärtlichkeit, mit der diese Figuren, Bilder und Geschichten erschaffen wurden. Ich kannte die Reise nach Panama, nichts weiter von diesen freundlichen Gesellen. Aber da gibt es ja noch so viel mehr! Als wir am späten Nachmittag „Ade kleines Schweinchen“ schauen, da will ich am liebsten protestieren, als das Mädchen kurz vor Schluß „done“ ruft und auf Pause drückt, denn nun weiß ich nicht, ob und wie der kleine Bär und der kleine Tiger einander wiederfinden.

Wir liegen im Bett zu dritt, singen, lesen, ruhen. Wir vespern im Bett. Wir tun so wenig wie möglich. Einzig ein kurzer Besuch beim Doktor ist nötig. Mit dem Auto fahren wir die paar Meter zum Medical Unit, denn hier sind eben zwei, die sich nicht gesund fühlen. Weiter Paracetamol nehmen, sagt der Doktor zu meinem Mann, der unter der Klimaanlage sitzt und fröstelt. Damit das Fieber nicht wiederkommt. Dann sei der Virus bald überstanden. Ich staune über diesen Glauben an die Tablette und als wir das Medical Unit verlassen staune ich wieder einmal über die vielen Tablettenhülsen aus Plastik, die mit aufgerissener Folie und ohne ihren wertvollen Inhalt den Boden dekorieren. In Indien bekommt man nämlich keine Packung Tabletten, nein, mit der Schere werden haargenau so viele Tabletten abgeschnitten, wie nötig. Die Packungsbeilage scheint niemanden zu interessieren, aber wir bekommen die Packung gezeigt, wegen des Verfalldatums. Das scheint man doch unter Beweis stellen zu wollen, dass man da nicht trickst. Ich erinnere mich wie irritierend ich diese Praxis in den ersten Monaten in Indien fand. Jetzt hingegen nicke ich routiniert und danke dem Doktor, vor allem auch nochmal dafür, dass er am Freitag Abend spät und am Samstag morgen früh bei uns zu Hause war, um nach dem fiebernden Mann zu sehen. Er hat es nicht weit, gegenüber wohnt er, und er gehört zu unserem Dorf.

Stark solle er sein, wie ein Mann, hatte er meinem Mann gesagt, Antibiotika empfohlen rein vorsorglich. Wir seien in Indien, da wisse man nie…insbesondere heutzutage. Mir hatte er „home work“ gegeben, kalte Waschungen sollte ich machen. Gab es da nicht so eine Szene bei Anna Karenina? Ich habe mich an Wadenwickel gehalten, denn damit kenne ich mich aus. Als aber dann auch das Mädchen fieberte fielen mir die Waschungen wieder ein.

Langsam taucht an diesem Tag, an dem das Fieber sich langsam zurückzieht, ein neues Land auf, das bisher verborgen schien. Und dieses Land heißt Zukunft. In den letzten Tagen zählte nur die Gegenwart, das Piepen des Thermometers jede Stunde, das Warten auf die Ergebnisse von Bluttests, das Aufatmen über jedes negative Ergebnis: Kein Typhus. Keine Malaria. Kein Dengue. Nur eine Grippe. Nur ein Virus. Jetzt taucht die Zukunft wieder auf am Horizont unserer Gedanken. Die nähere und die fernere Zukunft. Wer holt diese Woche das Gemüse, wo unser Fahrer doch heiratet und frei hat. Wann kommen eigentlich die Tangolehrer im Dezember, die bei uns wohnen werden. Wann genau ist eigentlich Diwali diese Woche, das hinduistische Lichterfest, das wir nun doch noch einmal hier feiern werden.

Die Zukunft, sagt meine Freundin H, ist ein organisches, plastisches Gebilde und immer wenn ich an diese Aussage denke, sehe ich Skulpturen vor mir, die im Minutentakt ihre Form verändern, aus weichem Ton sind diese amorphen Formen, oder aus weichem Wachs, hellem, weißem, fast farblosem Wachs.

Manche Tage sind nichts weiter als eine Erinnerung daran, dass es manchmal Stille braucht, um das leise Rauschen des Flusses zu hören, der unser Leben ist. Manchmal ist es kein reißender Strom, auf dem wir abenteuerlustig jauchzend schwimmen und ab und an ein wenig Wasser schlucken oder auch drohen unterzugehen. Manchmal ist es ein kleiner Bach, dem wir folgen und wenn wir seinen Lauf verlieren sollten säßen wir auf dem Trockenen.

Ich koche ein no-receipe-Curry, ein Mädchenessen wie der Mann das nennt und habe das Gefühl seit Ewigkeiten nicht so gut gegessen zu haben. Und früh, unerwartet früh, schlafen meine beiden Liebsten und ich sitze alleine hier. Während ich diese Zeilen schreibe, klingelt das Telefon. Es ist meine liebe Nachbarin S, die sich nach dem Fieber erkundigt und ich sage: Weg, beinahe schon fort ist es. Und bald feiern wir Diwali.

Es hat schon angefangen, sagt die Nachbarin S. Heute schon gehen die Leute Gold kaufen, und Gefäße aus Messing und mir fällt wieder ein, dass das Medical Unit schon ganz und gar mit Glitzergirlanden geschmückt war, die man gut und gerne an Weihnachten recyceln könnte, wenn man denn wollte. Auch die Nachbarin ist vorbereitet, fällt mir wieder ein, vor ein paar Tagen schon standen lauter neue Lichter im Haus und ein neuer Ganesh hing an der Wand, weit oben rechts, so dass man ihn beinahe übersehen könnte. Am Sonntag hat sie einen neuen Lehmofen im Garten gebaut, die Kinder sprangen um sie herum und spielten mit dem Ton. Auf diesem Lehmofen soll Diwali gekocht werden.

Mit Knall endet dieser Tag. Ein Knall nach dem Anderen ertönt draußen, denn zu Diwali gehört Feuerwerk und einmal mehr schwarzer Staub in Indiens Städten.

Dreimal schon bin ich aufgestanden und habe mich wieder zu meinem Mädchen gelegt. Fünf Tage dauert Diwali. Dann wir das Gute über das Böse gesiegt haben und das Leben über den Tod.

Und dann ist es vorbei.

Vorbei ist nun auch beinahe dieser Tag. Es ist der 5. des Monats und damit einer der Tage, an dem Frau Brüllen auf ihrem Blog fragt, was wir eigentlich den ganzen Tag gemacht haben heute. Mehr Tagebucheinträge sind auf ihrem Blog verlinkt.