Da ist sie. Ich hatte sie nicht kommen hören, denn ich war schon einige Stunden hier, im Garten des Cafes, in meine Arbeiten vertieft. Sie hatte angekündigt, dass sie zu spät sein würde, aber jetzt ist sie doch da und pünktlich. S., blond, helläugig, aus Sibirien.
Sie hat Hindi studiert, irgendwo in Indien, sie hat schon einige Zeit in Indien gelebt, an unterschiedlichen Orten. Nach einem Sommer in Moskau und Sibirien ist sie zurück. Letztes Jahr hat sie Englisch unterrichtet. Die öffentlichen Schulen in Indien, sagt sie. Ihr seid besser zurück in Europa wenn Eure Tochter in die Schule kommt. Ich weiß, sage ich. Es gibt auch sehr gute Schulen! Aber für die muss man bezahlen.
Jetzt ist S. Managerin in einem Fitnessstudio. Sie hat eine neue Wohnung, direkt in Banjara Hills und sie sagt, die Luft sei dort besser als in ihrer letzten Bleibe, das habe sie sofort gemerkt. Sie wohne an einer Sackgasse, ein paar Bäume und einen Balkon, auf dem sie morgens Tee trinke und jedes Mal sei es eine Freude. Die Luftverschmutzung, sagt S. Meine größte Sorge. Ich nicke.
S. bestellt auch hier Tee, grünen Tee, während ich an meinem Kaffee nippe. S. liebt Indien und fühlt sich wie ein Fisch im Wasser hier. In ihrem früheren Leben, davon ist sie überzeugt, hat sie in Indien gelebt.
Ich will jetzt Sanskrit lernen, erzählt sie mir und ihre Augen sprühen Funken dabei. Und ich habe an einer Universität hier ein Paper eingereicht, für eine Konferenz! Es wurde angenommen!
Worum geht es, frage ich. Ihre Energie ist ansteckend und wunderschön.
Es gab eine Epoche in Russland, die hieß silbernes Zeitalter, sagt S.
Anna Achmatowa! sage ich!
Genau, sagt S. Aber ich arbeite über eine viel unbekanntere Dichterin. Sie erfand für sich eine Persönlichkeit, eine Identität und sie brillierte in ihren Gedichten in der Darstellung dieser Identität. Sie wurde dafür berühmt. Ich aber möchte zeigen, dass sie gezwungen war, diese Identität zu erfinden, um mit ihren Gedichten überhaupt Erfolg zu haben.
Ich halte S. mein Telefon hin und sie tippt den Namen hinein. Bitte, sage ich, wenn du auf Übersetzungen stößt, lass es mich wissen.
Und dann erzählt die S weiter. Darüber dass sie Feministin ist. Darüber, dass sie „The Heroine’s Journey“ liest und “Godesses in every woman”.
Wir Frauen, sagt sie, wir haben doch vor allem gelernt, unsere männlichen Anteile zu leben. Arbeiten, unabhängig sein. Und dann machen wir das und haben Erfolg und sind unabhängig und alles, und irgendwann merken wir, dass es da eine Lücke gibt, eine Leere in uns. Etwas, was sich so nicht füllen lässt.
Jetzt, sagt S, füllt sie die Seiten ihres Tagebuchs. Das hat sie auch früher getan, aber es war eine Lücke entstanden, einige Jahre schon.
Ich weiß nicht, ob ich Feministin bin, sage ich. Das wird so schnell zu einer Rolle, in der man kollektive Opfer- und Tätermuster übernimmt.
Ja, sagt die S. Ich habe eine Freundin, die Feministin ist, sie ist wirklich eine große Kämpferin. Aber ich kann sehen wie schwierig es für sie ist, die Balance in ihrer Familie zu bewahren.
Es sind kollektive Probleme, aber sie sind nur individuell zu lösen, sage ich.
Zuhause lese ich über die Dichterin. Sie war, so heißt es, die berühmteste Dichterin Russlands, die es niemals gab. Elisaveta Ivanovna Dmitrieva. Oder sollte ich besser sagen Cherubina de Gabriaque?