Das Dorf, das es braucht….

Dass es ein Dorf braucht um ein Kind zu erziehen, ist ein geflügeltes Wort geworden. Meistens jammern wir, weil uns das Dorf fehlt. Und auch ich bin manchmal einsam und wünsche mir mehr Dorf. Aber es gibt auch schon etwas Dorf, auch für uns hier in der Fremde, und ich habe einmal aufgeschrieben, wer dazuhört:

Zu unserem Dorf gehören natürlich und zuallererst ich und der Papa. Auch wenn der Papa öfter mal auf Reisen ist, haben wir es doch gut, denn er hat nur 2 min zur Arbeit und zum Mittagessen sehen wir ihn auch. Ich bin die, die fast immer da ist, denn ich arbeite von zu Hause. Das Mädchen weiß das. Wenn sie mit anderen unterwegs ist, bestimmt sie meistens selbst, wann sie zurück zu mir will, denn sie weiß wo sie mich findet. Dann nimmt sie ihre Schuhe und geht nach Hause.

Zu unserem Dorf gehört unsere Hausfee, die das Mädchen „Aka“ nennt und das heißt große Schwester auf Telugu. Die Hausfee ist von Montags bis Freitags da und ist auch ein bisschen Kinderfrau. Sie teilt mit dem Mädchen ihr Lunch und das Mädchen sitzt mit ihr auf dem Boden im Garten und futtert Reis mit den Fingern.

Zu unserem Dorf gehört die begabte Gärtnerin im Nachbarhaus mit ihrem Mann und ihren zwei Buben. Die Gärtnerin hatte sich selbst eine Tochter gewünscht. Sie küsst mein Mädchen laut und innig auf die Wange und gibt ihr Obst und Kekse. Ins Haus der Gärtnerin marschiert das Mädchen mit aller Selbstverständlichkeit manchmal mehrmals am Tag. Mit dem kleinen Buben streitet sie um sein Spielzeug als sei es ihr eigenes, mit dem großen hopst und rennt sie und ist immer die langsamere, aber das stört sie nicht.

Zu unserem Dorf gehört der Doktor mit seiner winzigen Tochter, die er Twinkle nennt und seine Frau, die sich sorgt weil Twinkle nicht isst. Deshalb ist die Doktorsfrau meist mit einem Schüsselchen Brei auf der Straße anzutreffen und manchmal mit sorgenvollem Blick, während der Doktor Durchfälle und Vitamin-D-Mängel im Medical Field Unit diagnostiziert. Abends spielt er mit den Kindern Kricket auf der Straße, wie sich das für Indien gehört.

Zu unserem Dorf gehört die kleine N und ihre Nanny. Jeden Vormittag besuchen sie das Mädchen und am Nachmittag besucht das Mädchen die kleine N und die quietscht vor Freude sobald sie den Besuch erblickt. Wenn die kleine N hier ist, trinken ihre Nanny und meine Hausfee Tee und reden über Dinge, die ich nicht verstehe, denn sie sprechen Telugu und es gab einmal eine Zeit, da haben die beiden in einem Haushalt gearbeitet.

Zu unserem Dorf gehört Danny, der dicke Dackel der Nachbarn, den das Mädchen mit Cashewnüssen füttert.

Zu unserem Dorf gehört Kavita, die jahrelang die Straßen fegte, mit einer Engelsgeduld und einem kleinen Besen, der mich immer an Beppo den Straßenfeger erinnerte, und die sich jetzt um unseren Garten kümmert.

Zu unserem Dorf gehört die Belegschaft der Kantine, die das Mädchen mit vor der Brust zusammengelegten Händen begrüßt.

Zu unserem Dorf gehört unser Fahrer, der zu Hause von den blauen Augen des Mädchens schwärmt.

Zu unserem Dorf gehören meine lieben Freundinnen zu Hause, mit denen ich reichlich Sprachnachrichten tausche und so tagelang fortgeführte Gespräche führe. (Das Tolle daran: Man lässt einander garantiert ausreden.)

Zu unserem Dorf gehört die Kleinkindgruppe der internationalen Schule hier auf dem Campus, auf dem wir leben. Dieser Kleinkindgruppe verdanken wir die täglich vielfach wiederholte Aufforderung „iaia“ zu singen, denn seither liebt das Mädchen das Lied vom Old McDonald und seiner Farm.

Zu unserem Dorf gehört der Kollege meines Mannes und sein Sohn, den wir manchmal im Pool treffen und dann plantscht das Mädchen noch freudvoller als ohnehin.

Zu unserem Dorf gehört der „Neue“ aus Deutschland, dessen Frau und Tochter bald aus Thailand kommen. Der Neue kommt mittwochs und holt seinen Einkauf, denn wenn der Fahrer schon unser Biogemüse abholt kann er seins doch auch gleich mitbringen.

Zu unserem Dorf gehört die kleine feine Tango Community, die es ohne uns nicht gäbe in dieser Stadt und die sonntags mit uns tanzt.

Zu unserem Dorf gehört die Doktorandin, die wir abends beim Nachtspaziergang treffen und die mit dem Mädchen auf Schattenjagd geht.

Zu unserem Dorf gehört Ali, der die Geheimnisse dieser Stadt kennt, und ein paar andere, die es allerdings nicht zu beschreiben lohnt, da sie die Stadt gerade verlassen habe. Sie gehören nun zum großen Kreis all jener, mit denen wir liebevoll verbunden, aber nicht am selben Ort sind.

Zu unserem Dorf gehören alle die Arbeiterinnen auf den Kichererbsen-und Hirsefeldern, die das Mädchen mit so viel Herz und Liebe begrüßen.

Zu unserem Dorf gehören all die Bloggerinnen und Online-Heldinnen (bitte die männlichen Pendants mitzudenken hier) – die mich so sehr inspirieren, indem sie von ihrem Leben erzählen. Einige davon habe ich hier erwähnt.

Und zu unserem Dorf gehören die Vögel, Affen, Schlangen, Streifenhörnchen, Fledermäuse und Flughunde und nicht zuletzt, und vielleicht zuallererst der Mond, die Wolken und die Sonne.

Wer gehört zu Deinem Dorf?