Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich später einmal über diese Zeit hier sagen werde, dass ich auf eine besondere Weise ungestört war.
Und es stimmt. Immer wieder wenn ich über meine Tage nachdenke, kommt mir dieses Wort in den Sinn: Ungestört. Jetzt, da mich die fremde Kultur im Alltag nicht mehr verstören kann, habe ich in einen neuen Zustand gefunden. Er ist anders, als mein vorheriges Leben. Auch dort habe ich immer wieder Orte und Zeiten des Ungestörtseins gesucht und am leichtesten gefunden habe ich diesen Seinszustand in einsamen Schwarzwaldhochtälern. Hier fahre ich nirgendwohin, um diesen Zustand zu finden, im Gegenteil. Ich bin viel mehr am selben Ort und im Haus als ich das vorher war.
Ungestört zu sein ist ein friedvoller Zustand, in dem die Gedanken und Gefühle weitestgehend frei mäandern können, wohin sie wollen. Es beinhaltet die Abwesenheit einer ganzen Reihe von Zwängen und das macht es zu einem gnadenreichen Zustand.
Ein gewisser, vor allem mentaler Lärm besteht hier nicht, diese Überreizung des Denkens, die durch eine übertrieben dominante Rationalität entsteht. Sie überlagert das Fühlen und Empfinden und sie prägt unsere westliche Kultur bis in die Strukturen hinein, die unsere Welt ordnen und gliedern.
Ein bestimmter Druck, wie ich als Frau zu sein und insbesondere auch auszusehen habe, existiert hier nicht. Ich sehe nicht so viele andere Frauen, mit denen ich mich vergleichen könnte. Ich höre sie nicht reden, über all das, was sie an sich selbst optimieren wollen. Ich sehe sie nicht ins Fitnessstudio gehen und ich sehe sie nicht Make-Up testen.
Ein gewisser medialer Lärm ist mir hier fern, obwohl ich auch hier deutsche Nachrichten und Zeitungen konsumiere. Meine Augen sind weniger Reklame ausgesetzt. Mein Denken und Wahrnehmen ist weniger durchsetzt von medialen Einflüssen, von Sendungen, Meinungen, Features und Fernsehdiskussionen.
Ein gewisser Druck – sei er von innen oder außen – ist hier einfach nicht da. Ich erinnere das manchmal enge Gefühl, wenn ich mich morgens beeilen musste und auf dem kalten Bahnhof auf den Zug wartete. Dieses Gefühl gibt es hier nicht. Stattdessen gibt es ein sich freundlich auf- und abwiegendes Zeitenmeer, in dem ich meine Tage verbringe.
Ungestört sein heißt weitestgehende Terminfreiheit. Dem eigenen Rhythmus folgen können. Und dem des Babys natürlich. Auf das Wetter Rücksicht nehmen muss ich auch, ja, auf Hitze und Regen. Aber das sind keine Störungen. Das sind Dinge, auf die man sich einstimmen kann. Es sind körpernahe Rhythmen, die sich wie von selbst einspielen: Zeiten zum Schlafen, Spielen, Essen, Arbeiten. Ein natürlicher Wechsel, der flexibel bleibt, sich immer wieder verändert und wieder neu einpendelt. Am heftigsten gerät er durcheinander, wenn ich ins Flugzeug steige.
Ungestört sein heißt nach innen lauschen zu können, ohne dabei unterbrochen zu werden vom Lärm der Welt. Zu lauschen wie ein Kind, das eine große Muschel ans Ohr hält und staunt über das Wunder des Rauschens. Was das Kind für das Meer hält, ein Sehnsuchtsort der Weite und Erfüllung, ist doch nichts anderes als das eigene Blut, der gleichmäßige Puls des eigenen Körpers, in dem aber das ganze Geheimnis des Lebens geborgen ist.
Weder der Muezzin noch die Trommeln in den Tempel stören diesen Zustand. Wenn überhaupt, dann könnte höchstens der Gedanke stören, das irgendetwas jetzt gerade anderes sein sollte als es jetzt gerade ist.