Die Frau, die ich einmal war gibt es nicht mehr. Beinahe mein gesamtes früheres Dasein ist verschwunden, wie der Kampfer, der während eines hinduistischen Gebets rückstandslos verbrennt.
Ich trage nicht mehr die Kleider, die ich trug. Ich treffe nicht mehr die Menschen, die ich traf. Ich spreche nicht mehr (nur) die Sprache, die ich sprach. Ich gehe nicht mehr an die Orte, an die ich ging. Ich übe meinen bisherigen Beruf nicht mehr aus. Ich esse nicht mehr, was ich aß. Ich habe nicht mehr die Ängste, die ich hatte und nicht mehr die Freuden. Ich bin nicht mehr die, die ich war.
Auch mein Körper ist nicht mehr der, der er war. Alle sieben Jahre erneuert sich jede einzelne Zelle unseres Körpers. Darüber hinaus wuchs mein Bauch, barg ein Baby, versorgte es mit Milch und ging durch die zahllosen anderen physischen Veränderungen, die mit dem Mutterwerden einhergehen. Und es ist nicht nur der Körper, der sich wandelt.
Ich weiß nicht ob es noch viel mehr geben könnte, was meine Identität auf den Kopf stellen könnte. Manchmal verliert mein Ich den Faden. Es nimmt neue Fäden auf, verwirrt dabei die Alten. Das Garn reißt, immer dann, wenn ich den Kontinent wechsle. Steige ich in Frankfurt aus dem Flugzeug und kaufe mir am erstbesten Stand eine Brezel: Ratsch! – ist da so etwas Ähnliches wie das alte Ich, das sich in der salzigen Lauge, die die Brezel umhüllt, wiederfindet. Verlasse ich das Flughafengebäude in Indien und trete in die tropische Hitze hinaus – Ratsch! – ist da das neue Ich, das sich auf Dosa mit Kokoschutney freut.
Obwohl es immer klar war, dass wir nicht für immer hierbleiben werden, dass das eine Migration auf Zeit ist, hat diese vollkommen andere Umgebung meine Alltagswahrnehmung erst einmal zersprengt. Ich vermute, dass es anderen Menschen auch so geht, die in einen völlig anderen Kulturkreis ziehen, vor allem, wenn es für immer ist. Und trotzdem weiß ich, dass jeder und jede das auf andere Weise erlebt.
Ich wollte in die Fremde. Ich wollte diese Erfahrung. Ich wollte meine kulturellen Muster erleben, durchbrechen, erfahren und das geht nur, wenn sie auf andere kulturelle Muster prallen. Die Kulturgebundenheit des eigenen Bewusstseins lässt sich nicht im heimischen Wohnzimmer überwinden. Mir ist allerdings inzwischen klar, warum man sagt, es brauche mehrere Generationen, bis eine Migrationserfahrung integriert ist. Welche Gefühle, Wahrnehmungen, Empfindungen ein solcher Ortswechsel des Denkens, Fühlens, Erlebens auslöst, ist kaum zu beschreiben. Er betrifft so viele Schichten des Erlebens und des Bewusstseins. Kulturelle Prägung sitzt so tief. Eine einzelne Erfahrung des Alltags kann eine ganze Kaskade von Irritation, Verwirrung, Fragen, Emotionen auslösen. Dabei wolltest Du eigentlich nur Milch kaufen. Oder nach dem Weg fragen.
Die Frau, die ich einmal war, gibt es nicht mehr. Wer ist die Frau, die ich sein werde? Welche Frau ist da geboren worden, mit der Geburt ihres Kindes, hier auf dem indischen Subkontinent, in einem ganz anderen Leben?
Eines Tages werde ich ihr begegnen. Ich werde sie einladen, auf ein Glas süßen würzigen Masala-Chai oder auf einen leckeren Milchkaffee mit geschäumter Milch oder auf beides. Ich werde sie ansehen, neugierig und staunend. Und dann werde ich hören, was sie zu sagen hat. Ich freue mich schon darauf.
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Charles sagt:
Schöner Text. Ich war schon sehr weit weg, aber nie länger als sechs Wochen, und sehr lange weg, aber nur knapp 600 km weit weg, aber die Erfahrung ist in beiden Fällen die Gleiche. Ich bin ein anderer geworden, und das Land aus dem ich weggegangen bin und in das ich zurückgekehrt bin, hat sich auch verändert. Nun stehen wir uns recht distanziert gegenüber und das ist in Ordnung. Denn nicht der Ort ist für mein persönliches Glück bestimmend, sondern die Menschen in deren Mitte ich bin. Hier wie dort gibt es welche, die ich liebe und schätze. Es könnte nicht besser sein.
Margret sagt:
Den Text erlebe ich anregend und aufregend. Er erinnert mich sehr an die Zeit, als ich um die 40 Jahre jung war. Heute, mit 74 Jahren bin ich immer noch erfreut über Inspiration, neu definierten und Klarheit finden.
Auch im Land meiner Geburt habe ich mich um die Lebensmitte gefragt, wer ich denn bin und sein möchte. Ich habe chaotische und fantastische Zeiten erlebt, wurde ispiriert habe gesucht über Jahre, und schließlich gefunden.