Real India

Auf der Straße treffe ich einen Vater, der gerade mit seiner Familie nach Pondycherry gezogen ist. Er ist nur nochmals hier, um seine Arbeit zu beenden. Wie es ihnen dort gefalle, frage ich. Super, meint er, Pondycherry, das sei real India.

Was wäre eigentlich real Deutschland? Das Oktoberfest? Hamburg? Heidelberg? Berlin? Oder müsste es nicht viel mehr heissen: Real Europa, wenn man bedenkt, was für ein riesiger Subkontinent Indien ist? Wäre das dann Griechenland? Finnland? Tchechien? Oder was?

Dieser Campus hier, sagt der Mann, das ist ja nicht real India. In Pondycherry hingegen, … der Müll zum Beispiel, allgegenwärtig, damit müsse man dann halt klarkommen. Auf unserem Agrarforschungscampus liegt tatsächlich kaum Müll herum. Es gibt Tonnen, in die die Maids, die Hausangestellten, den Müll werfen und die Tonnen werden geleert. Auf manchen Tonnen steht sogar „Plastic“ oder „Glass“ aber da die meisten Maids nur wenig Englisch sprechen oder lesen kümmert das keinen so richtig.

Am Rande der riesigen Megacity haben wir weder den Verkehr noch die verpestete Luft noch das Gedränge das in der Stadt herrscht. Stattdessen gibt es hier Ruhe, Hirsefelder und Palmen. Es ist keine typische Expatblase, in der wir da sind, denn von den zwei- oder dreihundert Leuten, die hier auf dem Campus leben, sind die meisten Inderinnen und Inder. Es ist auch keine typische Gated Community mit Luxusvillen und Disneyland-Feeling. Aber dennoch ist es eine Blase, denn die meisten, die hier leben, verbringen ihren Großteil ihrer Zeit auch hier. In der Blase.

Real India, sind das Tempelelefanten in Pondycherry? Die Frauen in den Saris? Die Müllberge? Die Kühe auf den Straßen? Die Garküchen am Wegesrand? Die Paläste der Maharadschas? Das Taj Mahal? Goa? Oder sind das die Yoga Retreats, von Westlern geführt, von Westlern besucht? Was ist mit den Mittelklasse-Inderinnen und Indern, die uns relativ ähnlich leben? Sind die gar nicht echt?

Einen Kescher müsste man haben, eine riesigen Kescher, mit dem man Indien einfangen kann wie einen bunten, allzu exotischen Schmetterling. Und dann könnte man diese Fragen ein für allemal klären.

Ein paar Monate später höre ich wieder von der Familie. Sie sind noch in Pondycherry. Aber nicht mehr lange. Zum Ende des Jahres kehren sie nach Europa zurück.